Von den ersten Suburis bis zum viertägigen Training mit dem Nationalteam in etwas mehr als einem Jahr – warum nicht? Mit den richtigen Trainern und einer kleinen Portion Größenwahn ist eben vieles möglich. Ein 4. Kyu-Erfahrungsbericht vom Kendo-Klassentreffen in Lindow.
Ein Kangeiko ist im japanischen Kampfsport ein mehrtägiges Wintertraining. Traditionell kämpft man da nicht nur mit anderen, sondern auch mit der Kälte. Das soll nämlich Körper und Wille stählen.
Glücklicherweise muss man sich beim jährlich in Lindow stattfindenden Kangeiko des Deutschen Kendoverbandes nicht im Schnee wälzen. Ein Spaziergang ist es trotzdem nicht, schließlich findet das erste Training des Tages um 6.30 Uhr statt. Bambus auf nüchternen Magen, das ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Beliebt ist die Veranstaltung trotzdem: Aus ganz Deutschland kommen Kendoka angereist, um vom 27. bis zum 31. Dezember gemeinsam Kendo zu machen. Das Ganze hat somit auch etwas von einem Klassentreffen.
Trainiert wird in drei Gruppen: Jugend, Breitensport und Kader des Nationalteams plus Gäste, jeweils angeleitet von einem Sensei aus Japan. „Klingt doch ganz spannend“, meinte irgendwann im Spätsommer mein Tekkeikan-Kollege Freddy. „Kote statt Kekse zwischen den Jahren, warum nicht“, meinte ich. „Sehr gut“, meinten unsere Trainer, „macht das. Aber auf jeden Fall beim Kadertraining!“
Und ich so: „Training mit dem Nationalteam? Nach einem Jahr Kendo? Guter Witz.“
Und die so: „Klar. Du musst nur bei den Kadersichtungen im Herbst mitmachen, und dann kannst du da mittrainieren. Die Breitensportgruppe lohnt sich nicht.“
Und ich so: „Hmm …“
Freddy war schon Feuer und Flamme, aber der ist auch 1. Dan und hat schon den ein oder anderen Punkt gemacht in seiner Kendokarriere. Ich war da etwas skeptischer. Man könnte auch sagen: Ich habe Ali und Joern, natürlich voller Respekt, innerlich den Vogel gezeigt. Nationalteam, pah. Aber irgendwie war da noch ein weiteres Vögelchen, das sich auf meiner Schulter gesetzt und mir leise ins Ohr gezwitschert hat: „Warum nicht?“
Weil es immer gut ist, eine zweite Meinung einzuholen, habe ich die folgenden Wochen andere Leute gefragt, ob sie beim Kangeiko mitmachen. Und wenn ja, in welcher Gruppe. Die Recherche-Ergebnisse waren meist ähnlich: Kadertraining, ne, das sei zu anstrengend. Kadertraining, da könne man am zweiten Tag schon keine Treppen mehr steigen. Puh, Kadertraining, ne, die Armen, die hätten sie ja immer bemitleidet, wenn die völlig zerstört schon wieder zum Training mussten, während sie selbst noch beim Nachtisch saßen.
Tja, und dann bin ich halt doch zur ersten Kadersichtung in Berlin gegangen. Habe mich dort von den Besten unserer Nation verprügeln lassen. Und festgestellt, dass die abseits der Kampffläche ne ziemlich nette Truppe sind. Dass es auch andere gibt, die noch nicht lange Kendo machen, aber trotzdem dabei sein wollen. Und dass ich das Ganze vielleicht doch durchziehen will. Auch wenn Freddy von einem Nationalteam-Mitglied auf den Satz „Ich hab Bock aufs Kangeiko“ nur die mitleidige Antwort bekam „Ui – das habe ich lange nicht gehört!“
Nach zwei weiteren Kadersichtungen in Halle und Frankfurt war dann überraschend schnell der 26. Dezember da. Die mir mittlerweile vertrauten Gesichter saßen abends über ihrem kühlen Getränk in der Hotelbar in Lindow, diskutierten wild darüber, welcher vergangene Sensei wohl der Schlimmste gewesen war, und bestätigten sich gegenseitig, dass es eigentlich viel schöner wäre, jetzt daheim auf der Couch zu sitzen. Da saß vermutlich grad Freddy, der auf den letzten Metern leider verletzungsbedingt das Kangeiko absagen musste. Dabei hatten wir uns doch gegenseitig motivieren wollen! Wenigstens war mit Ali und Joern das Tekkeikan-Trainerteam fast vollständig am Start. Moralische Unterstützung konnte ich nämlich gut gebrauchen. Die letzten Tage hatte ich schlecht geschlafen und mir alle möglichen Kendo-Foltermethoden ausgemalt.
In der Nacht vor dem Kangeiko hatte ich sogar geträumt, ich treffe den Tod im Treppenhaus. Es konnte quasi nicht mehr schlimmer werden als in meiner Vorstellung.
Und das Beste: Ich behielt Recht.
Vier Tage später hatte ich eine Menge Blasen an den Händen, einen Körper randvoll mit Muskelkater und einen großen Hass auf meinen Wecker, der täglich um 6 Uhr unbarmherzig geklingelt hatte. Mein Neid auf Leute, die immer und überall schlafen können (beispielsweise in den kurzen Zeitfenstern zwischen den vier Trainingseinheiten täglich), war noch größer als vorher. Vier Tage in Folge hatte ich mich zudem in den Nachmittagsturnieren der sicheren Niederlage gestellt – was doch ein wenig anstrengend ist fürs Ego, selbst wenn man weiß, dass eben noch kein Meister vom Himmel gefallen ist.
Es stand aber auch definitiv fest: Ich hatte es überlebt. Was mir drei Monate zuvor völlig absurd schien, hatte ich schlussendlich gemeistert – und die Chance genutzt, mit den besten Kendokämpfern Deutschlands zu trainieren. Am Ende konnte ich sogar gegen einen weiteren Gast im Kadertraining einen souveränen 2:0 Sieg einfahren – und ein männliches Mitglied des Kaders immerhin im Armdrücken besiegen. Beides reichte, um mich in ein selig grasendes Honigkuchenpferd zu verwandeln. Und mir zu denken: Das mache ich nächstes Jahr wieder.
Vielleicht war auch ein bisschen Glück dabei, denn unser japanischer Sensei wollte uns alle besser machen – und nicht kaputt. Letzteres hatte es in der Vergangenheit wohl auch schon gegeben. Trotzdem würde ich das Kadertraining jedem empfehlen, der nicht in der Breitensportgruppe den ganzen Nachmittag mit Kata verbringen möchte. Und der Lust hat, aus der eigenen Komfortzone herauszukommen und seine Grenzen zumindest ein Stückchen hinauszuschieben. Denn darum geht es ja beim Kendo. Sagen zumindest unsere Trainer dauernd. Und beim Kendo gilt ja bekanntlich auch: Die Trainer haben immer Recht!
Danke Tekkeikan für den Größenwahn.
Kangeiko 2017, ich komme!